„Das braucht man doch zum Leben“
Für Nicole ist das ein großer Tag heute. Denn die 49-Jährige hat etwas ganz Neues in ihrem Leben begonnen. Sie sitzt an einem Holztisch in dem schmucken Cafe in Pinnow in der Uckermark, das vor allem leckeres Eis anbietet, und erzählt davon. Die Brille in die braunen Locken geschoben, schaut sie mit blauen offenen Augen ihr Gegenüber an. Den so lieb gewordenen Job als stellvertretende Marktleiterin bei Netto hat sie aufgegeben. Nina Kirch, die sie über die Kirchengemeinde in ihrem Heimatort Wartin kennt, hat sie überzeugt, hier in dem Eiscafé als Chefin zu arbeiten. Der bisherige Besitzer musste aus Krankheitsgründen schließen, der letzte Treffpunkt im Dorf, das rund 800 Einwohner hat, wäre damit auch noch weggebrochen. Das soll nun nicht so sein.
Gut 150 Menschen, die an diesem warmen Frühlingstag draußen vor der großen grünen Wiese unter weißen Schirmen sitzen, zeugen davon. Michael Heinisch-Kirch begrüßt sie im Namen der SozDia, die dieses Café übernommen hat. Auch für sie beginnt hier etwas Neues. Erstmals hat sie außerhalb von Berlin einen Begegnungsort geschaffen. „Was für ein guter Tag für die SozDia-Stiftung. Unsere Türen stehen offen, alle sind richtig hier und angenommen“, sagt Michael Heinisch-Kirch, der sich als Pfarrerssohn aus dem naheliegenden Frankfurt/Oder vorstellt. Die Menschen, die aus Pinnow, aber auch umliegenden Orten gekommen sind, freut es. Sie klatschen Beifall.
Der vierjährige Paul hat sich inzwischen schon das dritte Eis geholt. Er ist mit seinem Großvater Mario hier. Der wohnt seit 1994 in Pinnow. „Alles ist hier nach und nach weggebrochen“, sagt der. „Keinen Konsum mehr, kein Erntedank, kein Maifest. Die Kultur liegt am Boden.“ Umso mehr freut es ihn, dass die SozDia nun das beliebte Eiscafé weiterführt. „Das ist die einzige Möglichkeit, sich zu treffen. Das braucht man doch zum Leben“, ist er überzeugt.
Auch Hendrike Machon, die schräg gegenüber wohnt, ist mit ihren beiden Kindern, der sechsjährigen Fiona und dem vierjährigen Glenn, gekommen. Sie sitzt mit fünf weiteren Kindern auf der Wiese, im Hintergrund lange Maltische und eine große Hüpfburg. „Wir freuen uns sehr, dass es hier weiter diesen Begegnungsort gibt“, sagt sie. Den Namen SozDia hat die junge Mutter, die bei der NOK in Prenzlau arbeitet, noch nie gehört. „Den mussten wir erstmal im Internet suchen“, lacht sie.
„Seit Wochen haben wir hier alles vorbereitet und ziemlich viel dabei gelernt“, freut sich auch Verena Düntsch von der Leitung Profil und Kommunikation. So müssen die Ecken der Eiskarte abgerundet und natürlich auch für groß und klein gut lesbar sein. Die schwarzen und roten T-Shirts der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erfordern eine besondere Pflege. In weißer Schrift steht darauf das Logo „Eisschmiede Uckermark“. Der Name hat Tradition. Hatte doch in den schmuck erhaltenen Backsteingebäuden vor langer Zeit die Dorfschmiede ihr Domizil.
Der Flyer mit dem Schmiede-Logo und dem Motto „Offen für alle“ kündigt Veranstaltungen der SozDia an: Vom Konzert über das Kinderfest bis zum Kino unter dem Sternenhimmel. Und natürlich: auch Familienfeste soll es hier wieder geben. „Als wir all das auf Instagram angekündigt haben, gab es auch gleich innerhalb weniger Minuten unzählige Kommentare.“ Damit habe sie nicht gerechnet, so Verena Düntsch.
Nicole Leske, die neue Chefin, freut sich umso mehr auf die persönlichen Begegnungen hier. „Ich möchte, dass die unterschiedlichsten Menschen mit unterschiedlichen Ansichten und Herkünften hier alle an einem Tisch sitzen“, sagt sie. Und ist dann auch schon bei den beiden Geflüchteten, die hier in Pinnow leben und selbstverständlich dazugehören. „Nein“, sagt sie und schüttelt wie so oft energisch den Kopf. „Die Hoffnung gebe ich nicht auf, dass Menschen umdenken.“ Dazu gehört für sie auch „der Blick nach unten, auf die, die nicht so viel besitzen. Ob hier oder anderswo in der Welt“. Den eigenen Reichtum erkennen, darauf komme es an.
Dass das auch mit ihrem christlichen Glauben zu tun hat, daraus macht sie keinen Hehl. Im Gegenteil. Sie erzählt, dass sie schon als Kind in die Kirche gegangen ist, später dann getauft, konfirmiert und kirchlich getraut wurde. Heute gehört die zweifache Mutter zum Gemeindekirchenrat in ihrem Heimatort Wartin, der 20 Autominuten entfernt liegt. Mit Nina Kirch hat sie hier den Weihnachtsmarkt der Gemeinde vorbereitet. Das war der Anfang des gegenseitigen Vertrauens. „Am 31. Januar habe sich mich dann entschieden, ins kalte Wasser zu springen“, sagt die gelernte Fleisch -und Wurstwarenverkäuferin. Und sie weiß nur allzu genau: „Es wird Stolpersteine geben, wir werden hinfallen und weiterlaufen.“ Nun muss sie aber raus, zu den 150 Gästen draußen. Die geben ihr und der SozDia an diesem sonnigen Frühlingstag die Gewissheit, auf dem richtigen Weg zu sein.
Bettina Röder